Gefördert durch: Robert Bosch Stiftung, Bundesprogramm „Demokratie Leben“!
Projektleitende: Annalena Rehkämper und Anh Quan Nguyen
Aktionszeitraum: 01. – 10. September 2017
Am Wochenende vom 11.-13. August 2017 trafen wir uns zu einem Demokratieworkshop, um uns auf unseren Einsatz vor der Bundestagswahl vorzubereiten. Dabei diskutierten wir:
- Was sind Grundlagen guten Kommunizierens?
- Wie strukturiere ich ein Gespräch und wie spreche ich Menschen an?
- Warum gibt es so viele Nichtwähler:Innen? Woher kommt die Entfremdung von Demokratie?
- Was sind Schwerpunktthemen dieser Bundestagswahl? Was ist in der letzten Legislaturperiode eigentlich passiert?
- Wie sieht die rechtsextreme Szene in Sachsen-Anhalt aus?
Außerdem führten wir einen Probeeinsatz in der Umgebung durch, um unser Team auf den Einsatz vorzubereiten – wir sprachen 254 Menschen an, und konnten 156 Gespräche über Werte, Gesellschaft und Politik führen!
Vom 01. – 10. September 2017 waren wir mit über 40 Mitmacher:Innen im Wahlkreis Anhalt (71) unterwegs und haben dort an Haustüren oder auf Marktplätzen Grundsatzgespräche über Werte und Politik geführt. Ziel unserer Gespräche war und ist es, den Zusammenhang von Alltag und Politik und der eigenen demokratischen Stimme hervorzuheben. Am 01. September diskutierten wir und zahlreiche Bürger:Innen Bernburgs auf unserer Auftaktveranstaltung mit den Direktkandidat:Innen im Bernburger Metropol. Es diskutierten
- Kees de Vries MdB CDU,
- Ulrike von Thadden Bündnis 90 / Die Grünen,
- Steffen Globig SPD,
- Denise Köcke FDP,
- Kay-Uwe Ziegler AfD
- Herr Böse, die Linke
Nach unserer Einstiegsfrage, welche Werte den Kandidat:Innen am Wichtigsten sind, wurde von den Bernburger:Innen nach Rentenpolitik, Extremismus und den Folgen der Digitalisierung auf den Arbeitsmarkt gefragt – sowie eine Diskussion entfacht, woher Politikverdrossenheit stammt und was getan werden kann, um eine Brücke zwischen Menschen und Politik zu bauen.
Mehr über zentrale und wiederkehrende Themen, einige Geschichten und unser Fazit über unseren Einsatz im Wahlkreis Anhalt:
Ost und West
In unseren Gesprächen tauchte oft, ohne explizit erfragt zu werden, die Wiedervereinigung und Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland auf. Die Eindrücke und Erlebnisse sind subjektiv, aber geben aus unserer Sicht einen guten Einblick in die Stimmung Anhalts.
Genereller Eindruck vom Team
Ein großer Teil unseres Teams ist aus dem Westen, und mit Ostdeutschland, bzw. Sachsen-Anhalt wenig vertraut gewesen. Für viele war es daher eine Überraschung, dass das Thema Ost-West immer noch eine zentrale Rolle spielte. Viele im Team nahmen soziale Ungleichheit in Anhalt stärker wahr als in westdeutschen Gebieten. Im Hinblick auf die Flüchtlingsthematik wurde häufig bemerkt, dass in Anhalt das Thema vor allem für die Menschen aufgrund eines Konkurrenzdenkens um staatliche Hilfen präsent war. Insgesamt hat sich bei unserem Team erst durch den Einsatz die Wichtigkeit der Ost-West Thematik ergeben, und hat unser Bild von Sachsen-Anhalt ausdifferenziert.
“Ich war zuvor nie so richtig im Osten von Deutschland. Eine Woche in Sachsen-Anhalt zu verbringen hat mir vieles gezeigt. Das Ausmaß der Probleme der sozialen Ungerechtigkeit von den Menschen vor Ort (aber auch in anderen Teilen von Deutschland) wurden mir dort erst so richtig bewusst. […] Probleme vieler ostdeutschen kleinen Kommunen, wie der Wegzug der Jugend, konnte man durch die Gespräche mit den Menschen besser nachvollziehen.“
Wiederkehrende Themen der Gesprächspartner:Innen
Oft wurden in unseren Gesprächen die Themen Rentenausgleich zwischen Ost- und West, Lohnausgleich zwischen Ost- und West und Wegzug (junger) Menschen aus dem Osten in den Westen genannt. Nicht überraschend war hier, dass vor allem ältere Menschen diese Thematik aufgegriffen und viele Probleme und politische Positionen auf die Wiedervereinigung bezogen haben. Ein häufig wiederkehrendes Phänomen war, dass sich unsere Gesprächspartner:Innen durch den Ablauf der Wiedervereinigung nicht anerkannt und respektiert gefühlt haben. Niemand wünschte sich die DDR zurück, jedoch kam sehr häufig auf, dass man sich als Mensch übergangen und gedemütigt gefühlt habe.
“Ich werde nie vergessen, dass eine Frau plötzliche in Tränen ausbrach, nur weil ich ihr sagte, dass ich es gut gefunden hätte, wenn die BRD bei der Wiedervereinigung versucht hätte etwas von der DDR zu lernen. […] Wie viel Leid die Art und Weise der Wiedervereinigung immer noch birgt, war mir vor dem Einsatz nicht bewusst.”
Apathie und Politikverdrossenheit
Unser Team hat während des Einsatzes festgestellt, dass in Anhalt eine große Ohnmacht von vielen Menschen zu spüren war. Diese Resignation war deutlicher zu spüren als in anderen Regionen. Viele Vorurteile z.B. gegenüber Geflüchteten, schienen sich aus dieser Ohnmacht zu speisen, als Sündenbock für die eigene Enttäuschung und Machtlosigkeit. Ein paar unserer Teammitglieder vermuten, dass die Demütigungserfahrung durch die Wiedervereinigung sowie fehlende Anerkennung und Respekt mit diesem Ohnmachtsgefühl zusammenhängen – das lange Nicht-gehört-werden bezüglich eines zentralen Identitätsthemas könnte die Menschen zur Resignation geführt haben.
Anekdoten aus Anhalt
Was ist nun die Essenz unserer Erfahrungen und Gespräche? Welche Bedeutungen hatten all die Diskussionen für uns? Wie sieht dieses unvergleichliche “Etwas” aus, das wir für uns aus dem Einsatz mitnehmen? Zahlen, Mehrheiten und Zusammenfassung zeigen eine Seite unserer zehn Tage in Anhalt. Für einen kleinen Einblick in unsere Erfahrungen haben wir einige Anekdoten zusammengetragen.
“Ich habe eine Gruppe von 4 Personen angesprochen. Zwei waren ein Paar und hatten ein Baby dabei und eine 15-Jährige, die die kleine Schwester der Frau mit dem Baby war. Das war davon überzeugt Merkel muss weg, aber sie gehen nicht wählen. Beide waren sehr desinteressierte Nichtwähler. Die 15-Jährige war dagegen sehr interessiert und hat mir ständig Fragen gestellt und hat im Gespräch angefangen ihrer ältere Schwester zum Wählen zu überreden. Wo es dann um die Zukunft ihrer kleinen Tochter ging, war die junge Frau interessiert und wollte sich mit ihrer 15-jährigen Schwester den Wahl-O-Mat anschauen.“ Bitterfeld 06/09
“Die Begegnung mit einer vietnamesischen Frau in ihrem Restaurant, die, entgegen der Mehrheit der Menschen, Sachsen-Anhalt als eine große Chance für sich sieht, und dankbar ist, an dem Ort zu wohnen. Auch die Menschen dort in Schutz nahm, und alles gerechtfertigt hat. Dabei war an ihrer Wand ein abgedruckter Zeitungsartikel „Ich bin kein Ausländer, ich bin Köthener!“, in der sie ihre Existenz rechtfertigt im Ort. Ihre Haltung, sich nach 30 Jahren im Land so rechtfertigen zu müssen, und ihre Existenz ohne zu murren nicht nur begründen muss, sondern die Menschen, die das verursachen, auch noch verteidigt, hat mich tief verstört.”
“Am Tag meiner Abfahrt bin ich noch im Bahnhof durch Zufall mit einem Mann ins Gespräch gekommen, der mithörte, als ich dabei war, der Frau im Infocenter von unserem Projekt zu erzählen. Er meinte, er sei nach der Wende nicht mehr wählen gewesen und sei eigentlich total zufrieden. Er wusste auch nicht so recht etwas mit der Frage anzufangen, was ihm eigentlich am wichtigsten sei. Ich habe dann erwidert, er könne ja wählen gehen, damit alles so bleibt wie es ist. Die Reaktion des Mannes war verblüfft, so hatte er über die Sache noch nie nachgedacht. Ich habe dann ein bisschen von mir erzählt, welche Dinge mir wichtig sind und warum ich wählen gehe. Zum Schluss hat er sich von mir den Wahl-O-Mat erklären lassen und gesagt, er schaut sich das mal an und denkt weiter darüber nach. Bei ihm hatte ich wirklich das Gefühl, dass er vielleicht wählen gehen könnte am 24., das war für mich der bestmögliche Abschluss meines Einsatzwochenendes.”
Wert des Projekts
Seit November 2016 arbeiten wir am Projekt Denkende Gesellschaft: Vom Erkennen des Problems zur ersten Idee, wie wir die niedrige Wahlbeteiligung angehen können, bis hin zur Umsetzung sind viele Arbeitsstunden, Diskussionen, Teamsitzungen, Probeläufe und ein mehrtägiger Workshop für alle Mitglieder vergangen. Unsere Mitmacher:Innen sind sich einig, dass sich der Einsatz im weiteren Sinne gelohnt hat.
“Ja, auf jeden Fall! Ich habe viel gelernt und konnte hoffentlich einige Menschen davon überzeugen, dass ihre Stimme wichtig ist und sie zum Nachdenken anregen.”
“Für mich persönlich definitiv. Für die BWT bleibt abzuwarten, für bekehrte, überzeugt vormalige Nichtwähler lohnt es sich hoffentlich! Ich fänd es toll, wenn wir das Projekt zu einer weit verbreiteten Bewegung machen könnten.”